Natur und Medizin – eine Symbiose für die Zukunft?
Dr. Johannes Mayer (1953 - 2019), Forschergruppe Klostermedizin an der Universität Würzburg
Herr Dr. Mayer, welchen Stellenwert haben Heilpflanzen in der modernen Medizin?
Vorweg möchte ich erst einmal erläutern, warum wir sehr viele Erkrankungen mit Hilfe von Arzneipflanzen therapieren können. Pflanzen werden – genauso wie wir Menschen – von Bakterien, Pilzen und Viren befallen. Sie haben aber kein Immunsystem wie die Säugetiere entwickelt, sondern sie bilden Stoffe, die das Wachstum von Keimen behindern oder diese sogar völlig abtöten können. Diese Stoffe nutzt die Menschheit zum Teil schon seit Jahrtausenden, auch wenn unsere Vorfahren noch keine Kenntnisse von Viren und Bakterien hatten, so konnten sie doch sehen, dass durch die Verwendung dieser Pflanzen eine Heilung oder Besserung der Beschwerden eintrat. Durch die Methoden der modernen Wissenschaften können wir nun die Wirkung dieser pflanzlichen Stoffe genauer beobachten und so noch weitaus wirksamere Arzneimittel aus dem Reich der Pflanzen entwickeln.
Und nun zum Stellenwert der Heilpflanzen in der modernen Medizin: Die evidenzbasierte Pflanzenheilkunde (Phytotherapie) unterscheidet sich in ihrem Anspruch und in ihren Methoden nicht von den übrigen Bereichen der Medizin und Pharmazie. Rein pflanzliche Arzneimittel liefern allerdings keinen singulären Arzneistoff, sondern sie sind Vielstoffgemische. Schon das ätherische Öl einer Pflanze ist aus mehreren Komponenten zusammengesetzt. Nicht selten kommen die Wirkungen einer Arzneipflanze durch die Mischung von ganz verschiedenen Stoffgruppen wie beispielsweise Bitter- und Gerbstoffe, Flavonoide, Vitamine und Mineralien zustande. Diese Vielstoffgemische weisen selten unerwünschte Nebenwirkungen auf, da wir diese Stoffe auch über die Ernährung aufnehmen. Deshalb ist unser Organismus an diese Stoffe gewöhnt, was unerwünschte Reaktionen nochmals vermindert. Zudem können sich die Krankheitserreger auf die unterschiedlichen Wirkstoffe kaum einstellen, so dass es kaum zur Bildung von Resistenzen kommt.
Die Bildung von Resistenzen bei Krankheitskeimen entwickelt sich allmählich zu einer Zeitbombe. Inzwischen gibt es sogar super-resistente Keime, Bakterienstämme, für die kein wirksames Antibiotikum mehr zur Verfügung steht. So gibt es jährlich zahlreiche Todesfälle auf Grund von Antibiotika-Resistenzen. Um die Situation nicht weiter zu verschlimmern, sollten Antibiotika wesentlich sparsamer eingesetzt werden als noch in der jüngeren Vergangenheit, damit sie uns im Ernstfall auch weiterhin helfen können. Aktuelle Studien zeigen, dass zahlreiche Erkrankungen auch gut mit pflanzlichen Stoffen behandelt werden können, die zudem den Vorteil besitzen, dass die Bildung von Resistenzen erschwert wird.
Häufig werden naturheilkundliche Präparate als wenig wirksam wahrgenommen. Zu Unrecht?
Nach wie vor ist unter der Ärzteschaft eine gewisse Skepsis gegenüber pflanzlichen Arzneimitteln zu bemerken. Dies ist zum einen durch gewisse Vorbehalte begründet, zum anderen aber auch durch unzureichende Informationen, zumal Arzneipflanzen in der medizinischen Ausbildung allenfalls am Rande behandelt werden. Aber aufgrund von klinischen Studien und sehr positiven Erfahrungen in der Praxis ist ein zunehmendes Interesse an pflanzlichen Mitteln zu verzeichnen, unter anderem weil bei zunehmenden chronischen Erkrankungen nur wenige Mittel der synthetischen Pharmazie zur Langzeitanwendung zur Verfügung stehen.
Welche Pflanzen überzeugen Sie hinsichtlich der Überlieferungsmedizin und belegten Wirksamkeit besonders?
Zu den in jüngerer Zeit vielbeachteten pflanzlichen Arzneistoffen gehören sicherlich die Senföle (Isothiocyanate), die unter anderem im Brokkoli, Senf oder Meerrettich vorkommen. Schon Hildegard von Bingen empfahl – und zwar als erste – den Meerrettich bei Erkrankungen der tieferen Atemwege. Heute sind nicht wenige Ärzte von der Wirkung dieser Senföle bei Infekten der Atemwege und der Harnwege überzeugt. Zu den wichtigsten Arzneipflanzen des Mittelalters gehört auch der Andorn (Marrubium vulgare), der seit der Antike gegen Husten, Asthma und Lungenleiden eingesetzt wurde, aber auch bei Problemen des Verdauungstraktes und äußerlich zur Behandlung von Wunden. Heute ist seine Wirkung bei Bronchitis, Reizmagen und Appetitlosigkeit anerkannt. Ein wahrhaft biblisches Heilmittel ist die Myrrhe, ein Geschenk der Weisen aus dem Morgenland (bzw. der Heiligen Drei Könige) an das Jesuskind. Denn Myrrhe galt als Zeichen der Heiligung. In der Medizin wurde dieses Harz damals bei Wunden sowie Entzündungen in der Mundhöhle verwendet. Die im Mittelalter sehr fortschrittlichen Ärzte der arabischen Welt entdeckten die positive Wirkung auf den Verdauungstrakt. Diese Anwendungen sind auch heute noch aktuell. Gerade bei Reizdarm, einem Syndrom, an dem heute viele Menschen leiden, hat sich die Myrrhe oder z.B. auch die Pfefferminze bewährt. Zu den sehr beliebten Arzneipflanzen gehört aber auch der Fenchel, dessen Anwendungsgebiete sich im Laufe der Geschichte kaum verändert haben.
Sie halten gut besuchte Vorträge über medizinisch wirksame Pflanzen. Spricht das Interesse an Ihren Veranstaltungen dafür, dass ein Umdenken „in Richtung“ Naturmedizin stattfindet?
In den letzten Jahren habe ich gut 20 öffentliche Vorträge pro Jahr gehalten, und auf der Bayerischen Landesgartenschau in Würzburg von April bis Anfang Oktober 2018 hat die Forschergruppe Klostermedizin gut 400 Veranstaltungen mit rund 8.000 Teilnehmern durchgeführt. Dabei war und ist immer ein sehr großes Interesse an Heilpflanzen festzustellen. Eine Mehrheit der Bevölkerung möchte, vor allem bei nicht so schweren Erkrankungen, pflanzliche Arzneimittel nutzen. Dies belegen auch entsprechende Umfragen aus den letzten Jahrzehnten eindeutig. Insofern hat hier bereits ein Umdenken stattgefunden. Allerdings ist der Informationsstand noch extrem unterschiedlich ausgeprägt und in der breiteren Ärzteschaft ist ein Umdenken erst jetzt spürbar, z.B. durch die Aufnahme von pflanzlichen Mitteln in die Ärzte-Leitlinien. Diese Leitlinien sind Empfehlungen für den Arzt, die ihn bei der Behandlung seiner Patienten unterstützen und zum Beispiel aufzeigen, zu welchen Behandlungsmöglichkeiten Studien mit hoher Aussagekraft vorliegen.
Gibt es auch Kritiker unter Ihren Zuhörern? Wenn ja – was sind die häufigsten Einwände und wie entkräften Sie diese?
Wir hören durchaus auch kritische Stimmen, allerdings selten von Seiten der Medizin und Pharmazie. Die jeweiligen Argumente sind in den Antworten zu den ersten beiden Fragen dargestellt. Häufiger und hartnäckiger werden wir eigentlich von Anhängern der Homöopathie, die wir gar nicht ablehnen oder missbilligen, der Hildegard-Medizin (obwohl wir die Äbtissin durchaus wertschätzen) und anderen alternativen Therapierichtungen angegriffen. Wir orientieren uns an wissenschaftlichen Ergebnissen, die mit Methoden der Wissenschaftsgeschichte, der Pharmazie und der Klinik gewonnen werden. Nicht alles kann mit wissenschaftlichen Methoden eindeutig geklärt werden, aber sie sind für uns eine Richtschnur, um seriöse Aussagen zur Wirkung von Arzneipflanzen treffen zu können.
Welches Potenzial hat die Naturheilkunde für Sie persönlich in der Zukunft?
„Schulmedizin“ und Naturheilkunde, also heilen mit Licht, Luft, Wasser, Ernährung und Pflanzen, sind für uns keine Gegensätze. Sie lassen sich problemlos kombinieren und in vielen Kliniken werden zum Glück bereits die technischen und pharmazeutischen Therapieansätze mit naturheilkundlichen Methoden erfolgreich praktiziert. So werden naturheilkundliche Methoden auch immer besser klinisch getestet. Damit ist es nur konsequent, dass pflanzliche Mittel und naturheilkundliche Methoden in jüngster Zeit in die ärztlichen Leitlinien aufgenommen werden. Deshalb sollten die Krankenkassen die Kosten für diese Mittel übernehmen, damit sie einem größeren Kreis von Patienten zur Verfügung stehen. Therapieansätze der Naturheilkunde gewinnen auch für die zunehmende Anzahl von Patienten mit chronischen Leiden an Bedeutung. Denn hier fehlen zum Teil chemisch-synthetische Mittel, oder die verfügbaren Mittel können bei längerer Anwendung erhebliche Nebenwirkungen zeigen. Gerade bei chronischen Verdauungsproblemen wie Reizmagen oder Reizdarm stehen außerhalb der Naturheilkunde wenig geeignete Therapien zur Verfügung. Ein weiteres Feld, in dem die Naturheilkunde an Relevanz gewinnt.
In den letzten Jahren macht sich auch eine neue Lebenseinstellung bemerkbar, die zu einem veränderten Konsumverhalten führt. Die Ökobilanz der Produkte vom Pkw über Kleidung bis zum Lebensmittel wird zu einem wesentlichen Argument für die Kaufentscheidung, ebenso der Inhalt der Lebensmittel. Dieser Trend erfasst auch die Medizin und stützt die Naturheilkunde und Pflanzenmedizin. Dies sind nur einige Punkte, die den zukünftigen Stellenwert der Naturmedizin in der medizinischen Versorgung wahrscheinlich festigen werden.
Herr Dr. Mayer, herzlichen Dank für Ihre Einschätzungen zum Stellenwert der Naturmedizin in der heutigen Zeit!
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