Aktualisierte Ärzte-Leitlinie zu unkomplizierten Harnwegsinfektionen empfiehlt pflanzliche Alternativen und einen zurückhaltenden Einsatz von Antibiotika

PD Dr. med. Winfried Vahlensieck, Facharzt für Urologie, Bad Nauheim

„Bei unkomplizierten, bakteriellen Harnwegsinfektionen (HWI) weitgehend auf Antibiotika verzichten…“ – so lautet ein Fazit der aktualisierten S3-Leitlinie zur Therapie von unkomplizierten Harnwegsinfektionen. Experten fordern schon seit vielen Jahren, bei mild verlaufenden Erkrankungen wie zum Beispiel Blasenentzündungen weniger Antibiotika einzusetzen, um der stetigen Zunahme von Antibiotikaresistenzen zu begegnen. Vor diesem Hintergrund wird in der aktualisierten S3-Leitlinie zur Therapie von unkomplizierten Harnwegsinfektionen jetzt auch der Einsatz von pflanzlichen Arzneimitteln bei häufig wiederkehrenden Blasenentzündungen empfohlen [1].

Herr PD Dr. Vahlensieck, eine Frage vorab: Was wird in Leitlinien eigentlich genau geregelt?

Laut der Arbeitsgemeinschaft Wissenschaftlicher Medizinischer Fachgesellschaften (AWMF), welche die Entwicklung von Leitlinien koordiniert, sind Leitlinien „systematisch entwickelte Hilfen für Ärzte zur Entscheidungsfindung in spezifischen Situationen, die auf aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen und in der Praxis bewährten Verfahren beruhen“. Einfacher ausgedrückt sind S3-Leitlinien Empfehlungen für den Arzt, die auf Basis von klinischen Studien erstellt wurden und die ihn bei der Behandlung seiner Patienten unterstützen. Sie liefern grundlegende Informationen zur Diagnostik und zeigen auf, zu welchen Behandlungsmöglichkeiten klinische Studien mit hoher Aussagekraft vorliegen.

Wie werden Leitlinien erstellt?

Leitlinien werden in vier Stufen (S1, S2k, S2e, S3) eingeteilt. Im Fall von S3-Leitlinien, die übrigens der höchsten Qualitätsstufe entsprechen und nur für häufige Krankheitsbilder wie zum Beispiel Blasenentzündungen erstellt werden, erfolgt die Entwicklung folgendermaßen: Die Aussagen der Leitlinien werden von einem Expertengremium, welches aus einer Gruppe von Fachleuten, die Meinungsbildner und Experten Ihres Faches sind, zusammengetragen. Die Aussagen und Empfehlungen beruhen auf einer systematischen Auswertung hochrangiger wissenschaftlicher Studien. Im letzten Schritt legen die Mitglieder des Gremiums die Empfehlungen nach gemeinsamer Abstimmung fest. Die S3-Leitlinienkomission „unkomplizierte Harnwegsinfektionen“, der ich seit 2005 angehöre, hat die entsprechende Leitlinie gerade aktualisiert. Sie hat nun eine Gültigkeit bis 2021.

Nun zu den Inhalten der aktuellen S3-Leitlinien zur Behandlung von Blasenentzündungen: Welches sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Neuerungen im Vergleich zu den vorherigen Leitlinien?

Dass unkomplizierte Harnwegsinfektionen nicht zwangsläufig einer Behandlung mit chemisch-synthetischen Antibiotika bedürfen. Bekannt ist schon lange: Werden diese zu häufig und unnötigerweise eingesetzt, begünstigt dies die Entwicklung von Antibiotikaresistenzen. Die neue S3-Leitlinie befasst sich daher detailliert mit einer ausführlichen Diagnostik zur exakten Feststellung einer unkomplizierten Zystitis und bewährten Strategien bei der Behandlung von Harnwegsinfektionen. Als wesentliche Neuerung wurden zudem nicht antibiotische Ansätze, insbesondere mit pflanzlichen Arzneimitteln bei wiederkehrenden Harnwegsinfektionen in die Leitlinie aufgenommen.

Wann sollte bzw. kann bei der Behandlung einer unkomplizierten Zystitis laut Leitlinien auf Antibiotika verzichtet werden?

Wenn keine speziellen Risiken vorhanden sind, muss eine akute unkomplizierte Zystitis nicht zwingend mit Antibiotika behandelt werden. Bleibt die Infektion auf die Harnblase begrenzt, ist auch bei wiederkehrenden Infektionen nicht mit gravierenden Komplikationen zu rechnen, wie in der S3-Leitlinie betont wird.

Eine Harnwegsinfektion wird übrigens als unkompliziert eingestuft, wenn im Harntrakt keine relevanten funktionellen oder anatomischen Anomalien, keine relevanten Nierenfunktionsstörungen und keine relevanten Vor- bzw. Begleiterkrankungen vorliegen, die eine Harnwegsinfektion bzw. gravierende Komplikationen begünstigen.

Gilt dies für alle Patientengruppen?

Diese Therapieempfehlung gilt für nicht-schwangere Frauen in der Prämenopause, die in den Leitlinien als „Standardgruppe“ definiert ist. Folgende weitere Patientengruppen werden hinsichtlich Therapie und Vorbeugung unterschieden: Schwangere, Frauen in der Postmenopause, jüngere Männer oder Diabetiker. Für diese werden in den Leitlinien gesonderte Empfehlungen ausgesprochen.

Welche Alternativen werden bei häufig wiederkehrenden unkomplizierten HWI laut Leitlinien empfohlen?

Bei häufig wiederkehrenden Infektionen wird für nicht-schwangere Frauen in der Prämenopause die Einnahme von Phytopharmaka, die z. B. Kapuzinerkresse enthalten, empfohlen.

Was halten Sie von den Neuerungen der im April 2017 veröffentlichten Leitlinie?

Die aktuellen Empfehlungen sind Wegbereiter für ein Umdenken in der bislang vorwiegend Antibiotika-orientierten Therapie von unkomplizierten Harnblasenentzündungen. Für mich sind sie ein wichtiger Schritt, die Resistenzproblematik zu entschärfen und damit den Einsatz von Antibiotika für schwere Krankheitsverläufe aufzusparen. Ebenfalls positiv werte ich die neue Empfehlung alternativer Behandlungsstrategien mit pflanzlichen Arzneimitteln, die z. B. Kapuzinerkresse enthalten. Zahlreiche Untersuchungen belegen, dass die Wirkstoffe aus dieser Pflanze, die Senföle, bereits in einer geringen Dosierung eine Vielzahl von Krankheitserregern – darunter die häufigsten Erreger von Harnwegsinfektionen – bekämpfen und auch entzündungshemmend wirken. Mit der Empfehlung in den S3-Leitlinien bekommen solche senfölhaltigen Pflanzen im therapeutischen Geschehen den Stellenwert, der in klinischen Studien schon längst belegt ist.

Vielen Dank, Herr PD Dr. Vahlensieck

1. Leitlinienprogramm DGU: Interdisziplinäre S3-Leitlinie: Epidemiologie, Diagnostik, Therapie, Prävention und Management unkomplizierter, bakterieller, ambulant erworbener Harnwegsinfektionen bei erwachsenen Patienten. Langversion 1.1-2, 2017 AWMF Registernummer: 043/044, http://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/043-044l_S3_Harnwegsinfektionen_2017-05.pdf (Zugriff am: 30.08.2017)]

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